Rassistische Zerrbilder in der Musik – Brief an Radio Blau Leipzig

Leipzig den 20.6.2016

Offener Brief an Radio Blau Leipzig

Betreff: Rassistische Zerrbilder in der Musik

Am Sonntag, den 19.6.2016, habe ich wie gewohnt Radio Blau gehört. Es lief gerade die Sendung Schellack-Sch(w)ätzchen, als ich glaubte, meinen Ohren nicht trauen zu können. Anstoß meines Schreibens ist das in der Sendung abgespielte Lied „Du Schwarzer Zigeuner“ von Vico Torriani. Zum Ende des Liedes rief ich deshalb in der Redaktion an und erläuterte dem im Studio sitzenden CVD meine Bedenken. Das war gegen 18:29 Uhr. Das Gespräch dauerte ca. 9 Minuten.

Mir ist bewusst, dass Radio Blau über bestimmte Standards verfügt und selbst oft rassismuskritische Sendungen hervorbringt und ausstrahlt. So z. B. RomaRespekt Radio, welches von coloRadio (Antje Meichsner) produziert wird.

Empört hat mich auch das im Anschluss an o.g. Lied abgespielte Werk bzw. dessen Kommentierung. Darin wurde beklagt, dass die Sängerin leider nicht mehr Produktionen hervorbringen konnte, weil sie aufgrund der Verfolgung ihres jüdischen Lebensgefährten den Verstand verlor. Das sei laut Moderator_in „schade“.

Ich erlaube mir deshalb, an Sie als Redaktion/Produzent_innen einige Fragen zu stellen:

– Wie „schade“ muss es für die Überlebenden des Porajmos gewesen sein, mindestens eine halbe Million Bekannte/Verwandte/Nachbar_innen/Freunde_innen/Kolleg_innen/Kinder, die Rom_nja waren, verloren zu haben?
– selbe Frage bzgl. der Überlebenden der Shoa (s.g. Asoziale, Zeugen Jehovas, Obdachlose, Schwarze Menschen, Homo- und Bisexuelle Menschen nicht weggedacht)
– Wie empathisch sollte Ihrer Einschätzung nach ein_e Radiomacher_in sein, wenn es um die Verfolgung von Minderheiten geht?

Wie folgt möchte ich kurz ausführen, was ich bereits dem CVD nahelegte. Ich möchte hier keinesfalls belehren, nur zum Nachdenken anregen. Ich bin mir darüberhinaus ziemlich sicher, dass Sie sich meine Kritik ernsthaft zu Herzen nehmen und versuchen werden, diese nachzuvollziehen. Als langjährige_r Radio Blau Hörer_in bin ich mir Ihres kritischen Selbstanspruches gewiss.

Exkurs I:

Die Verfolgung der Sint_ize und Rom_nja hörte nach 1945 nicht auf. Bis heute speist sich das kollektive Gedächtnis der Mehrheitsdeutschen aus der nun mittlerweile schon seit Jahrhunderten tradierten rassistischen Vorstellung einer vermeintlich einheitlichen stereotypen Gruppe der Sint_ize und Rom_nja. Lieder wie die von Torriani sind nicht nur Resultat einer vorurteilsbehafteten rassistischen Mehrheitsgesellschaft, nein sie sind auch die Absicherung, dass sich an der Konstruktion der „Anderen“  so schnell nichts ändern soll und auch wird („Othering“). Die Palette an Vorurteilen spielt sich hier zwischen zwei Polen ab: exotisierend (sexuell freizügig, „feurig“, abenteuerlustig, frei, musikalisch) und völkisch (fremd, faul, minderwertig, kriminell, „asozial“, krank, geistig zurückgeblieben). Der eine Pol kann nicht ohne den anderen betrachtet werden. Ähnlich einer Batterie sind beide für ein Funktionieren wichtig bzw. nur so denkbar.

-> Das Lied (welches Ende der 1950er Jahre veröffentlicht wurde) kann also gar nicht unverfänglich sein, es liest (bzw. hört) sich niemals mit „Abstand“, da die meisten Rezipient_innen mit dieser Diskriminierungsform (siehe unten: Antiromaismus) nichts zu tun haben, d.h. da sie nicht betroffen sind. Sint_ize und Rom_nja wurden genau zur Entstehungszeit des Liedes nicht als Opfer anerkannt, sondern zermürbenden und demütigenden Anhörungen ausgesetzt. Dies erfolgte durch Menschen in Ämtern, die vor 1945 die Uniform mit Hakenkreuz trugen und für den Tod tausender Menschen verantwortlich waren (Siehe dazu Dieter Hildebrandts Scheibenwischersendung vom 15.4.1985; auch Biographien wie die von Sophie Erhardt/ Uni Tübingen, Hermann Arnold/ Z Wort Experte im Dienste des BKA/Diakonie/Bundesfamilieministeriums u.w. Personen). Auch wenn es sich bei der Schellack-Sch(w)ätzchen Sendung um alles andere als eine dokumentatorische, antirassistische handelte, welche mit Beispielen de-konstruieren wollte – es war eine „Unterhaltungssendung“ – muss hier gefragt werden, was das eigentlich soll.

Exkurs II:

Am Bild der kriminellen Z Wort (Vgl. : https://ecoleusti.wordpress.com/2014/05/31/was-zu-benennen-ist-antiromaismus/ und https://ecoleusti.wordpress.com/2013/07/15/z-wort-stereotypen/ ) wird permanent gearbeitet und Vorbehalte werden fortgesetzt und -geschrieben. So gab es jüngst in Leipzig zwei Vorfälle, welche dies belegen. Siehe hier meine Dokumentation dazu: https://ecoleusti.wordpress.com/2016/06/17/dokumentiert-antiromaismus-reudnitz-juni-2016/ und https://ecoleusti.wordpress.com/2016/04/03/alltaglicher-antiromaismus-in-leipzig-april-2016/
Abgesichert sind solche Zerrbilder nachwievor auch durch den ungebrochenen Willen der weißen Mehrheit, an der eigenen Ignoranz nichts ändern zu wollen und zu müssen. Trotz Forderungen einzelner Romaverbände kann mensch auch in Leipzig wie selbstverständlich in Gaststätten Z Wort Schnitzel bestellen und die dazu passende Soße im Supermarkt kaufen. So als hätte es die NS Verfolgung nie gegeben (Vgl. den DDR Bürgerrechtler Reimar Gilsenbach (Oh Django, sing deinen Zorn- Sinti und Roma unter den Deutschen, Berlin, 1993) bei einem Besuch im Forsthaus Raschwitz (Markleeberg) zu DDR Zeiten: Z Wort Schnitzel vs. N Wort Schnitzel -> „Du Schwarzer Zigeuner“ vs. „Du […] N Wort “ -> Wäre das möglich? Was passiert bei Ihnen im Kopf wenn Sie diesen Vergleich hören?). Und wenn sich wieder einmal ein ZDF Moderator (Peter Hahne) aufschwingt, die armen Lebensmittel könnten ja nichts für die Diskriminierung der Minderheit, so wird verkannt, dass es selbige Spezialität vor 1945 nirgendwo gab. Zumindest ist kein deutschsprachiger Kochbucheintrag bekannt (Vgl. http://www.sprachlog.de/2013/08/16/lustig-ist-das-rassistenleben/ ).
Und selbst wenn das Z Wort nicht verwendet wird, weiß jede_r, was gemeint ist: https://ecoleusti.wordpress.com/2016/06/20/ladenbesitzerin-aus-berlin-neukolln-will-keine-roma-in-ihrem-geschaft/

-> Meine Frage ist daher, wenn mensch um den pejorativen Charakter von Wörtern (oder hier Inhalt eines Liedes) weiß, warum benutzt er_sie_es diese dann? Dies funktioniert übrigens auch wiederum nur, weil eben alle wissen, dass eigentlich Z Wort gemeint sind, wenn von (Sint_ize und) Rom_nja geredet wird  – und vice versa (d.h. Rom_nja werden nach dem Hören des Liedes mit der Konstruktion in Verbindung gebracht, obwohl sie mit dieser rein gar nichts zu tun haben, da sie lediglich weißen Hirngespenstern entspricht)! Rom_nja haben sich niemals selbst so bezeichnet (Vgl. Ausführungen des Sprachwissenschaftlers Wilhelm Solms: http://www.hinterland-magazin.de/pdf/13-16.pdf ), der Z Wort Begriff ist einer der Mehrheit und zwar der nachwievor herrschenden weißen nordeuropäischen. Diese ist es auch, welche an ihren Vorurteilen und ihrem Handeln etwas ändern sollte und nicht die Minderheit selbst! Das Lied also „trotzdem“ abzuspielen, weil mensch sich ja bestimmter Sachen bewusst sei, ist daher völlig hinfällig. Die (Sint_ize und) Rom_nja und andere sind nicht nur die größte Minderheit in Europa. Ihnen allen ist gemein, dass sie nachwievor diskriminiert werden und sich ihre Situation nach 1945 nicht verbesserte. Historiker_innen sprechen in diesem Zusammenhang auch von der zweiten Verfolgung. Diese ist es, welche bis heute nachwirkt, auch und gerade in den Ländern des „Westbalkan“. Zu Ermordungen der Ustascha in der Zeit des WK II und dem Massaker in Srebrenica 1995 lässt sich überall und schnell recherchieren. Deutschland und die Deutschen haben hier eine hohe Verantwortung, welche leider bisher nur spärlich zu spüren ist.

Exkurs III:

Wir leben in einem Bundesland, dass gerade massiv in s.g. sichere Herkunftsstaaten abschiebt. Zu aktuellen Abschiebungen in Sachsen siehe hier: http://jungle-world.com/artikel/2016/24/54217.html. Ich empfinde es als beschämend, Menschen aus meiner Umgebung einer Situation ausgesetzt zu sehen, die mehr als „unsicher“ ist. Dies ist kein Einzelfall. Es bedrückt, macht traurig aber auch wütend, dass hier Biographien zerstört werden von Menschen, die genau wie Sie und ich einfach nur gleichberechtigt, friedlich und akzeptiert miteinander zusammen-leben wollen.

-> Was hat das mit dem Lied zu tun? Es entsteht bei mir der Eindruck, als ob der Moderator der Sendung all das entweder geflissentlich ignoriert oder einfach nichts davon weiß! Das Lied konstruiert immerhin eine Fremdgruppe, die so nicht existiert, von der aber auf der anderen Seite die Mehrheitsgesellschaft scheinbar so Vieles zu berichten hat. Die Fremdgruppe bedroht die Ich-Gruppe (so die Denke des_der Rassist_en_in
-> Abwertung, welch Wunder?), gleichwohl sie eine gewisse Faszination ausstrahlt. Folglich soll die Gruppe der Z Wort aber extrahiert werden. Genau letzterer Punkt ist es, welcher praktisch gerade aktuell vollzogen wird. Möglich weil vorher gewisse Wissensbestände abgesichert wurden und keine_r (der Mehrheitsgesellschaft) nachhakt, geschweige denn interveniert.

Wenn Sie es also ernst meinen, bitte ich Sie inständig ihrem Anspruch folgend Solidarität nicht nur sprachlich (von anderen) einzufordern, sondern diese praktisch werden zu lassen (Vgl. http://sebastian-doerfler.de/2016/06/worte-wirklichkeit-roma-denkmal-berlin/ ) und solchen rassistischen Unterhaltungsstücken keinen Raum zu geben!

Allgemein zu Sprache und Macht: http://www.taz.de/!5057508/
Wie wirkungsmächtig Ressentiments auch auf institutioneller Ebene wirken, lässt sich hier nachlesen: http://jungle-world.com/artikel/2016/24/54227.html

Hiermit weise ich darauf hin, dass dieser Text auf meinem Blog veröffentlicht wird, sowie alle Reaktionen.

Mit freundlichen Grüßen
Michael, Leipzig
Blogger_in bei https://ecoleusti.wordpress.com/


Reaktion vom 24.6.2016 (9:30 Uhr):

Hallo Michael,
zunächst bitten wir um Entschuldigung, dass wir Dir bis hierhin nicht
geantwortet haben. Auf jeden Fall möchten wir Dir mitteilen, dass wir
uns mit dem Thema beschäftigen und wir Dein Anliegen ernst nehmen.
Konkret ist für derartige Belange die öffentliche Vollversammlung
vorgesehen, welche immer am ersten Dienstag jeden Monats bei uns in den
Redaktionsräumen von Radio Blau stattfindet. Dort kommen ab 19 Uhr
SendungsmacherInnen zusammen, um u.a. über Programminhalte zu sprechen.
Dort werden wir Dein Anliegen vortragen bzw. kannst Du auch gern selbst
an der Versammlung teilnehmen. Der Sendungsmacher von
Schellack-Schwätzchen wird ebenfalls eingeladen und im Vorfeld über
Deine Mail informiert. Auch die Mitglieder des Vereins sowie die
regelmäßigen Teilnehmer der Versammlung werden mit Deiner Mail und den
entsprechenden Auszügen aus der betreffenden Sendung konfrontiert.

Dir einen schönen Tag,
i.A. des Vorstandes
Cornelius
Vorstandsvorsitzender des Radio-Verein Leipzig e.V.

2 Kommentare

  1. Mangelnde historische Kenntnis und/oder diesbezügliche Sensibilität sind natürlich ein Problem, der Punkt, wo ich Ihnen aber widersprechen muss, ist dieser:
    „-> Das Lied … liest (bzw. hört) sich niemals mit „Abstand“, da die meisten Rezipient_innen mit dieser Diskriminierungsform (siehe unten: Antiromaismus) nichts zu tun haben, d.h. da sie nicht betroffen sind.“
    Wieso sollte es mir z.B. nicht möglich sein, ein Lied mit „Abstand“ zu hören, wenn ich nicht „betroffen“ bin? Bin ich zu dumm oder zu ungebildet oder zu unempathisch?

    In dem Lied geht es um jemanden mit Liebeskummer, der/die offenbar einen Geigenspieler pauschal als „Zigeuner“ bezeichnet und sich offenbar nur um die eigenen Gefühle schert.
    Was kann man daraus lernen? Ich lerne folgendes:
    1.: Menschen mit Liebeskummer kümmern sich nicht um die Gefühle anderer.
    2.: In den 50er Jahren hatte man irgendwie die Verfolgungen der Nazizeit verdrängt.

    Ok, das hätte man mal in der Radiosendung ansprechen können, aber auch, wenn das nicht geschehen ist, wieso sollte ich annehmen, „Sinti und Roma verdienen ihr Geld durch Geigespielen“, weil in einem Lied das mal Thema war, welches so alt ist wie meine Eltern? Ich wäre ja schön naiv.
    Soll nicht heißen, dass es nicht solche naive Menschen gibt; aber halten Sie solche Menschen für die Mehrheit?

    1. Hallo,
      vielen Dank für Ihren Kommentar, den wir hiermit veröffentlichen. Ihre Frage beantworten Sie teilweise selbst. Ja, ich halte die Mehrheit der Gadje-Deutschen für unempathisch ggü. den Sint_ize und Rom_nja und ihrer Verfolgung. Dass Sie uns schreiben und sich Zeit nehmen zeigt, dass über Ihre „Naivität“ hinaus der Wille besteht, an antrainierten Denkmustern etwas ändern zu wollen. Das freut uns und wir würden Sie gerne weiterhin als Leser_in auf unserem Bloq begrüßen. Einen schönen Tag wünschend

      Michael_a von der Recherchegruppe Maulwurf

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