Dokumentiert: „Worte und Wirklichkeit“ (Sebastian Dörfler)

Worte und Wirklichkeit

Aus Hamburg und Kiel sind die Familien nach Berlin gekommen, um zwischen Brandenburger Tor und Bundestag ein Zeichen gegen ihre drohende Abschiebung zu setzen. 40 Roma aus den Westbalkan-Staaten haben am 22. Mai das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma besetzt. Noch in der gleichen Nacht, nach gescheiterten Vermittlungsversuchen, ließ die Denkmal-Stiftung die Männer, Frauen und Kinder durch die Polizei räumen.

Seitdem haben Verbände und Organisationen viele Stellungnahmen geschrieben und Positionen ausgetauscht. Nicht alle sind einer Meinung. Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, kritisiert zwar die Abschiebungen von Roma in angeblich sichere Herkunftsländer, sagt aber auch, dass dieser Ort des Gedenkens an die über 500.000 ermordeten Sinti und Roma nicht „für politische Protestaktionen missbraucht“ werden dürfe. Petra Rosenberg, Vorsitzende des Berliner Landesverbands, findet hingegen, wenn es eine passenden Ort gebe, dann diesen. Und der Jugendverband Amaro Foro hat zusammen mit 20 weiteren deutschen Roma-Organisationen die Frage aufgegriffen, die die Besetzungsaktion an das politische Berlin stellt:

„Wo waren sie, als es darum ging, die aus der historischen Verantwortung entstehende Solidarität mit den europäischen Roma und Romnija praktisch werden zu lassen?“

Die Solidarität wurde zu offiziellen Anlässen so oft beschworen, dass man sie langsam nicht mehr ernst nehmen kann. Vor zwei Monaten sogar direkt vor dem Denkmal, am 8. April, dem Welt-Roma-Tag. Bundespräsident Joachim Gauck war da, Berlins Bürgermeister Michael Müller, die Grüne Claudia Roth. Sie alle zeigten ihre „Solidarität mit den Sinti und Roma“. Im gemeinsamen Aufruf wird auch die „Gewährung von Schutz für aus ihrer Heimat geflohene Roma“ gefordert.

Es waren schöne Bilder für die Tagesschau. Und so nötig solche Zeichen auch sind, es fühlte sich komisch an. Schließlich saßen hier Politiker, die entweder selbst oder deren Parteien jene Gesetze zu „sicheren Herkunftsländern“ verabschiedet haben, die der Grund dafür sind, dass die Schutzsuche von Roma nach einer dreiminütigen Anhörung als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt und in der politischen Debatte pauschal als „Asylmissbrauch“ abgewertet wird. Sehr häufig handelt es sich bei den nach Deutschland geflohenen Roma um die Nachkommen der Opfer des Holocausts, mit dessen Aufarbeitung Deutschland doch angeblich so verantwortungsvoll umgeht.

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Von Sebastian Dörfler, erschienen in der Freitag 24/16

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