Erinnerung und Mahnung am 75. Jahrestag des „Auschwitzerlaß“ – Kein Vergeben! Kein Vergessen! Opre Roma!

Am 16.12.2017 wiederholt sich zum 75. Mal der Jahrestag des Erlasses des Reichsführers SS und Chefs der deutschen Polizei Heinrich Himmler, welcher die Grundlage für die Deportation und Vernichtung zehntausender deutscher Mitbürger_innen sowie Angehöriger der Minderheit in den besetzten Gebieten, welche der Gruppe der Sint_ize und Rom_nja angehörten, bedeutete. Dieses Datum nehmen wir heute zum Anlass, um erstens an die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands und zweitens auch an die aktuelle Diskriminierung der Minderheit zu erinnern und zu mahnen.

Sint_ize und Rom_nja haben gerade im süddeutschen Raum einen entscheidenden Anteil an einer so verstandenen deutschen Kultur. Unter anderem über den Westbalkan kamen sie Mitte des 14. Jahrhunderts über Böhmen und Mähren in die deutschsprachigen Länder und werden das erste Mal 1407 in den Stadtbüchern von Hildesheim verzeichnet. Mit anfänglicher Neugier nahm man sie zunächst freundlich auf, dies sollte jedoch nicht lange so bleiben. Im Wechselverhältnis von negativ und positiv konnotierten Klischees setzte alsbald eine furchtbare Verfolgung ein, welche über Jahrhunderte währte. S.g. Z[…]stöcke an den Stadttoren von Nürnberg, legalisierte Treibjagden auf Rom_nja samt ihrer Kinder und Frauen und Unterstellungen, Krankheiten zu übertragen und Kinder zu rauben standen den Bildern entgegen, welche später in der Romantik geformt wurden um die Gruppe von der Mehrheit zu exkludieren. Der Historiker Joachim Hohmann zählt zwischen 1497 und 1774 insgesamt 146 Edikte im Gebiet des Deutschen Reiches, welche sich gegen die physische Anwesenheit von Rom_nja richteten. Rom_nja wurden benutzt, um ein verwehrtes Freiheitsstreben und kitschige Vorstellungen von Sozialgefügen zu kompensieren. Auf der einen Seite verwehrte man ihnen den Kauf von Grundstücken und unterstellte ihnen Lebensmittel von den Feldern zu stehlen anstatt eigene anzubauen – behauptete auf der anderen Seite einen naturgegebenen quasi genetischen Wandertrieb. Die Frauen seien sexuell freizügig (siehe Prosper Merimees Novelle „Carmen“ oder Victor Hugos „Esmeralda“ aus der Glöckner von Notre Dame), die Männer faul und kindlich naiv und nicht dazu in der Lage, an höherer Bildung zu partizipieren. Sie seien zu nichts anderem als dem Stehlen und Trickspiel in der Lage. Woher das Vorurteil stammt, Igel zu essen, wird wohl nie in Gänze geklärt werden [1]. Wahrscheinlich hat es auch mit den Millionen Menschen zu tun, die nach dem Dreißigjährigen Krieg aufgrund von Wohnungslosigkeit und Angst vor ansteckenden Krankheiten in Europa unkontrolliert umherzogen.

Über Sint_ize und Rom_nja wissen wir daher gleichzeitig viel – und doch so wenig.

Im 1871 sich konstituierenden Deutschen Reich begann man recht schnell, sie unter eine Sondergesetzgebung zu stellen. 1899 wurde in München der „Nachrichtendienst für die Sicherheitspolizei in Bezug auf Z[…]“ gegründet, kurz „Z[…]zentrale“. 1903 wurde in Deutschland die Daktyloskopie recht früh eingeführt – durch Paul Köttig am Polizeipräsidium Dresden. 1929 erfolgte schließlich durch Initiative Wilhelm Leuschners die landesweite Einführung des „Gesetzes zur Bekämpfung des Z[…]unwesens“. Die Erfassung und Verfolgung der Sint_ize und Rom_nja begann also nicht erst 1933.

Wie muss es sich also als Bürger_in der Stadt anfühlen, am Wilhelm Leuschner Platz in die Straßenbahn einzusteigen, gleichwohl man von den dutzenden Abschiebungen in s.g. sichere Herkunftsstaaten aus Sachsen weiß? Dazu später etwas mehr.

Der Völkermord fand nicht irgendwo statt, sondern vor Ort. Wir erinnern uns an die aus Leipzig nach Auschwitz deportierten und vernichteten und in den Leipziger Rüstungsbetrieben ermordeten Sint_ize und Rom_nja.

Dazu benötigte es fleißige Mittäter_innen und Menschen, die weg schauten. Aber auch viele von denen, die selbst nicht von Verfolgung betroffen waren, halfen fleißig mit bei der Erfassung der im Deutschen Reich befindlichen Sint_ize und Rom_nja. So z.B. das Pfarramt der Thomaskirche in Leipzig, welches 1934 im voreiligen Gehorsam Mitglieder der Sinti Familie Deußing an das Instituts für Rasse- und Völkerkunde an der Universität Leipzig meldete – ihre eigenen Glaubensgenoss_innen! Die beiden Geschwister Frieda Loni und Gerhard Rudolf Deußing welche sich nicht freiwillig sterillisieren lassen wollten, wurden schließlich in Ravensbrück bzw. Auschwitz ermordet. Und auch große Teile der Sinti Familie Laubinger haben den deutschen Faschismus nicht überlebt. Sie gerieten ins Visier der Behörden weil Nachbar_innen sie denunzierten. Lediglich Stolpersteine für die Familien Deußing (Große Fleischergasse) und Laubinger (Ranstädter Steinweg) sowie auf dem Burgplatz für Justus Finanz Rose zeugen noch von einem Leipzig vor 1945, welches nicht ausschließlich aus Gadje bestand.

Zweite Verfolgung / verwehrte „Wiedergutmachung“

Nach 1945 endete die Verfolgung nicht. Menschen, denen man im Zuge der Gesetzgebung von 1934 die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen hatte, irrten in einem zerstörten Europa umher, in dem sie nicht willkommen waren. Vielen von ihnen hatten einen großen Teil ihrer Angehörigen in den Konzentrationslagern verloren. Es gab kaum eine Familie, die nicht mindestens fünf bis acht Verwandte zu beklagen hatte – so einst Romani Rose in einem Interview. Die Täter_innen wurden weder in Ost noch in West für Ihre Mitarbeit am RHF oder allg. am Völkermord bestraft. Lediglich ein Hobbygenealoge wurde in der DDR zu ein paar Jahren Zuchthaus verurteilt. Herrmann Arnold, welcher die Rassegutachten des RHF nach 1945 verschwinden ließ, trat gar bis Ende der 1970er Jahre als „Z[…]experte“ für das Gesundheitsamt auf, hatte eine außerplanmäßige Professur für Sozialhygiene in Saarbrücken und war Amtsarzt in Landau/Oberpfalz. Seine Vorbilder Erhardt, Justin und Ritter konnten entweder mit dem in den 40er Jahren generierten Material bis Ende der 1980er Jahre unter finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ihre pseudowissenschaftlichen Untersuchungen fortführen, als Psychologin in Frankfurt am Main am Gesundheitsamt oder als Obermedizinalrat selbiger Stadt tätig sein.
Den Opfern hörte hingegen niemand zu. Ihnen war es auch aufgrund der während der Kindheit verwehrten Bildungsmöglichkeiten nach 1945 massiv erschwert, ihren Ansprüchen und Forderungen Nachdruck zu verleihen. So hatten die Täter_innen zwar fein säuberlich festgehalten, was sie den Opfer alles weggenommen hatten, diese Unterlagen waren den Sint_ize und Rom_nja aber nicht zugänglich. Nein, ganz im Gegenteil. Bei eingereichten Anträgen auf Entschädigung oder Opferrente wurde diese noch mit dem kriminalpräventiven Charakter der einstigen Polizeimaßnahmen konfrontiert – und somit ein zweites Mal kriminalisiert. Die einstigen Opfer saßen teilweise sogar den einstigen Täter_innen bei ihren Entschädigungsanträgen vis á vis gegenüber!
Bis 1956 galt in der Bundesrepublik D die Rechtsauffassung, dass die Rom_nja bis März 1943 (Ausführungsdatum des Runderlasses) nicht aus rassischen Gründen verfolgt worden seien. Im Wortlaut: Die Verfolgung sei aufgrund ihrer „eigene[n] Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb [selbst verursacht gewesen.] [Und weiter:] „Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“1 Aufgrund dieser Nichtaufarbeitung deutscher Geschichte ist auch die heutige Situation von Rom_nja aus Südost- und Osteuropa zu bewerten.

Sicher ist ein Staat / Land, in dem Menschen sicher leben können – in dem sie eine Lebensgrundlage haben.

Aktuell schiebt der deutsche Staat massiv in Länder ab, die als s.g. sichere Herkunftsstaaten bezeichnet werden. Doch was ist sicher? 1999 wurde ein großer Teil des Kosovo durch die NATO bombardiert und zu weiten Teilen flächendeckend zerstört. „Auschwitz sollte sich nicht wiederholen“, so damals Joschka Fischer. Das Massaker von Srebrenica fand dennoch statt und kostete zehntausende Menschen das Leben, während Westeuropa wohlfeil weg schaute. Rom_nja wurden elendlig aus ihren Häusern im Kosovo und Mazedonien vertrieben. Andere haben sich in den wenigen übrig gebliebenen Häusern eingerichtet und diese renoviert. Wenn nun Rom_nja aufgrund einer angeblich veränderten Sicherheitslage dorthin abgeschoben werden, stehen sie vor dem Nichts. Ihre Kinder sind zu einem nicht zu vernachlässigenden Teil in D geboren und sprechen die dortige Sprache nicht. Im Alltag herrscht massive rassistische Gewalt. Die Ressourcen sind knapp und der Zugang zum Krankenversicherungssystem, dem Wohnungsmarkt oder gar der Schule sind stark eingeschränkt. Dank dem Rückführabkommen mit Mazedonien werden den abgeschobenenen Menschen teilweise die Pässe an den Flughäfen abgenommen. Keine Pässe, keine Perspektive. Die Nachfahren derer, die in der Zeit des zweiten Weltkriegs Rom_nja verfolgten sind im Kosovo nun selbst Minderheit, was ihre Agressivität gegenüber der Minderheit keinesfalls verkleinert. Die Sicherheitslage ist nach wie vor angespannt. Sicher sieht anders aus.

Ich möchte daher noch einmal alle anwesenden Menschen eindringlich mahnen. „Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt daran, wie sie mit den schwächsten Mitgliedern umgeht“ (Helmut Kohl, Bonn, 15.5.1998). Keine_r ist vergessen! Kein Vergeben! Kein Vergessen! Nie wieder Faschismus! Alle bleiben! Opre Roma!Recherchegruppe Maulwurf

Bilder: Angehörige der Leipziger Sinti Familien Laubinger, Erdmann und Johanna Schmidt sowie Gerhard Rudolf und Loni Frieda Deußing (aus: Henry Lewkowitz: Stolpersteine in und um Leipzig: Jugendprojekte des Erich-Zeigner-Haus e.V., Leipzig, 2016; Wacław Długoborski: 50-lecie zagłady Romów w KL Auschwitz-Birkenau : 3. sierpnia 1944 – 3. sierpnia 1994 ; wprowadzenie do wystawy = Der 50. Jahrestag der Vernichtung der Roma im KL Auschwitz-Birkenau / Stowarzyszenie Romów w Polsce, Katowice, 1994; Bilder aus Nachlass der Familie Deußing.

[1] Nachttrag März 2023: Wir wurden auf diesen Text hingewiesen: Kraut und Igel, Der Standard, 30.9.2010. Ob das immer so zutreffend ist mögen wir nicht beuteilen zu dürfen. Wir distanzieren uns hier ausdrücklich von einer bestimmten Richtung der Interpretation.

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